Lost in Gravitation

Achterbahn fahren ist was ganz was Feines. Der kurze Moment, nachdem sich am höchsten Punkt die Bremse löst und du mit leicht erhöhter Geschwindigkeit und schwer erhöhtem Puls gen Boden stürzt. Das Gefühl, als würde Sir Isaac Newton persönlich hinter dir stehen und vorsichtig aber bestimmt deine Hoden, wie zwei kleine Äpfelchen, anheben und dabei „für die Wissenschaft“ in dein Ohr hauchen. Wer auch immer diese Physik erfunden hat: Chapeau.

Ein ganz ähnlich großartiges Gefühl ist es, wenn du im Meer auf einem Stück Hartschaum stehst. Also, wenn du es dann irgendwann schaffst.

Die Arme schmerzen vom Rauspaddeln. Der Rachen und die Augen brennen vom brackigen Salzwasser. Deine Knie sind aufgeschürft, weil du entgegen der recht simplen Anweisungen immer wieder falsch aufstehst. Und trotz alledem ist die gesurfte Welle für mich das, was der Satz „wir haben Stromausfall und müssen schnell das ganze Eis aus dem Gefrierschrank essen“ für einen Sechsjährigen ist.

Wenn man sein Körpergewicht nach vorne verlagert und Richtung Meeresspiegel rast, ist alles vergessen. All die Male, die man seine Balance verliert und die Welle schon mal so lieb ist und dich und deine Badehose bei schonenden 30° im Kurzwaschgang in die Mangel nimmt. All die Male, die man bei ruhiger See zwischen dreißig anderen Surfern sitzt und man sich fragt, warum man nicht einfach im Bett geblieben ist. All die Male, wenn dein Surflehrer dir „paddle like a man“ hinterher ruft und du mit aller Macht gegen den männlichen Muskelkater im Schulterbereich und die männlichen Tränen im Gesichtsbereich ankämpfst.

Alles vergessen. Nur du, das Brett, die Welle und Sir Isaac natürlich. Der steckt inzwischen schon in leichten Erklärungsnöten bei seiner Frau. Lange Arbeitstage, ausweichende Antworten und seine Handflächen, die früher nach süßem Apfelkompott gerochen haben, kriegen eine gewisse Moschusnote.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir sprechen bei mir von einer Wellen-Erfolgsquote von 1 zu 47. Drei große Wellen innerhalb von vier Wochen Bali klingen sicherlich nicht nach viel. Aber wenn du als metaphorische Jungfrau ins Ausland fährst und innerhalb von einem Monat mit deinem Brett über drei „Victoria‘s-Secret“-Engel gerutscht bist, dann ist das ein guter Anfang in einer dir unbekannten Sportart. Außerdem hast du zwischendurch auch immer mit den Models von KiK geübt. Man darf als Anfänger die kleinen Weißwasserwellen nämlich nicht unterschätzen. Weniger Risiko, mehr Erfolgschancen und eine steilere Lernkurve.

Neben dem großartigen neuen Surf-Gefühl, welches mein Endorphinausschüttungssystem unter „bitte mehr davon“ abgespeichert hat, war Bali als Insel auch ein Erlebnis. Eine Sonnenaufgangstour auf einen ehemaligen Vulkan, ein Besuch in einem Tempel von und für Affen und die ein oder andere nächtliche Eskalationsstufe Tieforange mit Conrad und Vince an meiner Seite haben kulturell und vong Bier her Spuren und 1druck hinterlassen.

Das größte Pech von Vincent war dann gleichzeitig unser größtes Glück. Dreieinhalb Wochen haben wir uns in ein Bungalow mit zwei Sechs-Mann-Schlafsälen eingemietet. Zwei Wochen und 89 Bettwanzenstiche auf Vincents Rücken später, hatten wir die leise Vermutung, dass vielleicht irgendetwas in Vincents Bett lebt, das nicht Vincent ist. Nach diversen urdeutschen Beschwerdegesprächen sind wir, wie ein bettwanzengeplagter Phönix aus der Asche des pestizidverseuchten Schlafsaals, empor geupgraded worden. In der Villa wurde uns dann vor Augen geführt, wie arm wir vorher waren und was Luxus eigentlich bedeutet. Eigene Badezimmer, dreiblättriges Klopapier, eigener Pool, mit Besteck essen … man könnte diese Liste und den Besuch in Bali noch ewig weiterführen. Konjunktiv und Asienaufenthalt waren aber dann vorbei.

sie so: "Ich surfe", ich so "wart ma ab"

sie so: „Ich surfe“, ich so „wart ma ab“

2 Gedanken zu “Lost in Gravitation

  1. Zwischen Rheinländischen Wolken, dem ein oder anderen Tropfen von oben und dem Piepen der Dialysemaschinen huschte mir bei dem Beitrag wieder ein Lächeln übers Gesicht! Es wird wieder Zeit für Sonne, Strand und Meer! Danke dafür Martin 😉

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  2. Pingback: Neu im Land der Wellenreiter: Ein blutender Anfänger auf Bali

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