„Ich finde es toll, dass du Kapazitäten für die Verrücktheiten anderer Leute hast“, sagt Sylvie. Sie hat gerade damit aufgehört, Brummkreiselgeräusche zu machen. Mit dem Pirouettendrehen auch. Ich halte weiterhin geduldig die Türe auf.
Wir gehen zusammen in die Mall in Kellyville, im nördlichen Teil von Sydney. Direkt neben der Hillsong-University, bei der Sylvie eine Ausbildung gemacht hat. Deswegen kennt sie auch alles und jeden in dem Einkaufszentrum. „Hey, Sylvie. How you doin‘?“, freuen sich alle paar Meter ehemalige Kommilitonen, wenn sie Sylvie sehen. Nach der Vorstellung ist die erste Frage, zu welcher Gemeinde ich denn gehöre. Eine Frage, mit der ich noch nie konfrontiert wurde. Normalerweise ist die erste Frage einer Person, die mich nicht kennt:
1.) „Was guckst du so blöd?“ oder
2.) „Was ist dein scheiß Problem?“ oder
3.) „Wissen Sie eigentlich wo Sie hier sind? Sie dürfen sich hier nicht ausziehen.“
Mit „der ist Heide“ rettet Sylvie mich aus meiner verdatterten Verdatterung. Kellyville ist heiliger als der Rest Sydneys. Sylvie arbeitet unter der Woche und jeden Sonntag für die Hillsong-Church. Wobei sie es nicht arbeiten nennt. Sie „dient“. Arbeitgeber Gott. Für die Rente kann man damit nicht sparen. Aber für die Zeit danach ist der Papierkram schon erledigt
Ehrlich im Dirndl
Als ich Sylvie vor 15 Jahren kennenlernte, arbeitete sie noch zusammen mit meiner großen Schwester in einem Brauhaus in Bayreuth. Mit Jesus hatte sie nur Kontakt, wenn er zufällig Schweinshaxe bei ihr bestellte. Ich fand das fesche Madl im Dirndl damals sofort sympathisch. Ihre witzigen und verqueren Gedanken finden den Weg aus ihrem Kopf und wirbeln unzähmbar um diesen herum. Sie spricht aus, was sie denkt, und ähnlich wie ich beim Tanzen, tritt sie dabei auf viele Füße, und ähnlich wie Zinedine Zidane in einem Weltmeisterschaftsfinale, stößt sie vor viele Köpfe. Anders als ich beim Tanzen, kommt sie dabei aber nicht ins Schwitzen, sondern hat nach einer ehrlichen Aussage auch noch ein ehrliches Lächeln für dich übrig.
Dieses ehrliche Lächeln habe ich zum ersten Mal drei Jahre später bei meinem Abiball gesehen. Meinem Bruder, der im Anzug rausgeputzt vor uns steht, bestätigt sie eine ungeheure Ähnlichkeit zu James Bond. Während mein prä-Abiball postpubertäres Ich, welches sich ebenfalls nach einem Kompliment sehnt, nur einen prüfenden Blick zugeworfen bekommt: „Du hast etwas von Kermit. Aber im Anzug.“ Ehrliches Lächeln hinterher und der Abiball kann losgehen. Mit einem kleinen Frosch im Hals.
Höhere Macht Down Under
Sylvie ist dann irgendwann nach Australien. Jesus war grade mit der Schweinshaxe fertig, und so haben die Beiden sich gefunden. Aus einem Flirt wurde etwas Ernstes. Aus „ruf mich an“ wurde „bete mich an.“ Bei traditionellen Ehen gibt es die Erlösung beim Ableben. Bei Sylvie und ihrem Neuen ist „bis das der Tod uns scheidet“ nur das Vorspiel. Und obwohl sie jetzt den Sohn des Schöpfers datet, hat sie direkt zugestimmt, als der Heide fragte, ob er sie in Sydney besuchen kann.
„Ich mache vorher aber noch fünf Wochen Roadtrip“, sage ich. „Dann nimm doch einfach mein Auto“, schlägt sie selbstlos vor. Zwei Tage später bauen wir ein Bett hinten in ihren kleinen Transporter. Dann drehe ich den Schlüssel um, um zum ersten Mal in meinem Leben auf der falschen Seite der Straße zu fahren. Der erste Kreisverkehr ist eine Herausforderung. Im heiligen Auto hilft Jesus am Steuer. Judas übernimmt die Gangschaltung. Das Auto ist alt und manchmal – so Sylvie – „hakt es etwas im dritten Gang“. Tut er bei mir nicht. Bei mir bleibt er nämlich für alle Zeiten in eben jenem Gang stecken.
Gleichstrom Wechselstrom – Schnellstraße zur Unterwelt
Sydney im Dezember. 35 Grad im Schatten. Die Frisur steht in alle Richtungen. Ein nervöses Etwas sitzt. Und zwar hinter dem Steuer eines weißen Ford Econovan und fährt im dritten Gang am Berg an. Das Getriebe schreit vor Schmerzen. Der Geruch von verendender Kupplung steigt mir in die Nase. Die sonst so relaxten Australier haben ein kleines Hupkonzert einstudiert. Titel der Sonate „fuck off, you fucking cunt“. Zumindest kreischen sie mir das freundlich mit 80 Dezibel beim Überholen ins Auto.
Endlich kann ich vom Highway auf einen Parkplatz abbiegen. Ich drehe den Schlüssel um und atme tief durch. Das Auto stoppt. Der Schweiß läuft. Ich schnalle mich ab und sehe aus wie die diesjährige Gewinnerin der schwedischen Saunameisterschaften. Eine schweißige Schärpe, da wo grade noch der Anschnaller war. Aufguss: fehlendes Getriebeöl.
Sylvie entschuldigt sich gewissenhaft am Telefon dafür, dass ich ihr Auto auf dem Gewissen habe. „Schau mal, ob du da ein bisschen Öl nachgießen kannst“, schlägt sie vor. „Alles klar!“, sage ich. Nachdem ich einen Blick auf den Motor geworfen habe, ist dann soweit alles klar, dass nichts klar ist. Ich habe von Automotoren genau so viel Ahnung wie ein erfahrener Automechaniker, der nach einer schweren Kopfverletzung an Gedächtnisverlust leidet und seitdem nur noch Macarena und seinen Namen tanzen kann.
Hügellied
Den weißen Ford danach durch die Straßen von Sydney gequält und dann vor meiner Airbnb-Wohnung begraben. Die Auferstehung nach dem dritten Tag bleibt aber aus. Der Transporter ist und bleibt tot. Alles andere wäre auch unglaubwürdig. Durch viel Improvisation findet der Roadtrip dann doch statt. Sylvie lädt mich danach zu sich nach Hause ein und lässt mich in der Garage schlafen. Nach dem heiligen Motto, wenn jemand dein Auto zerschrottet, dann halt ihm noch die andere Wange hin. In der gemeinsamen Zeit lerne ich das gesamte Spektakel rund um die Hillsong-Kirche kennen. Sylvie hat sich für dieses Leben entschieden, und ich freue mich für sie, weil sie trotz ihres konservativen Lebensabschnittsgefährten, ihren unkonservativen Charakter behält. Ich kann den einnehmenden Charme der Kirche spüren, bin aber noch nicht bereit für etwas Festes. Deswegen reiche ich gegen Ende meine Dien-Unfähigkeitsbescheinigung ein und reise weiter.

How much is the fish?